Adventskalender 2023

Nikolaus, 6. Dezember

Story von Michael Kothe, Autor aus Unterschleißheim bei München

Die Weihnachts-Chimäre

 

Nach Karneval ist bekanntlich vor Karneval. Zumindest kennen es so die Mitglieder von Faschingsvereinen. Bei den christlichen Feiertagen ist das etwas anders: nach Weihnachten ist vor Ostern, und nach Ostern ist vor Weihnachten.

Mein Neffe Kevin ist aus dem Alter heraus, in dem er an den Weihnachtsmann und das Christkind glaubt. Erst kürzlich waren wir auf das Thema gekommen, als er mich anrief.

»Ich komme dann zu Beginn der Weihnachtsferien für drei, vier Tage zu euch«, war die wichtigere Botschaft.

Nun ist eine beschauliche Adventszeit mit weihnachtlich-nostalgischer Dekoration in und vor unserem Haus Tradition, und so war ich unsicher, wie er in diesem Jahr damit umgehen würde. Jedenfalls nahm ich mir vor, ihn trotz aller möglichen Widerstände mit etwas Ausgefallenem in unsere vorweihnachtliche Stimmung einzubinden. Doch womit? Bunte Weihnachtsteller mit Zimtsternen, Spekulatius & Co hatten wir selbst reduziert – dem Kalorienbewusstsein geschuldet. Der Dresdner Christstollen war ihm zu trocken, wie ich wusste, und mit mir in den Wald zu ziehen, die Axt über der Schulter getragen, um den Weihnachtsbaum auszusuchen und selbst zu schlagen, hatte er schon im vergangenen Winter abgelehnt. Womit sonst konnte ich einen Pubertierenden locken, der sicherlich auf alles Andere stand als auf einen gemütlichen Abend vor dem prasselnden Kamin, wenn draußen dicke Flocken fielen? Ohnehin: wirklich Schnee? Dem Klimawandel gehorchend hatte sich die weiße Pracht in den vergangenen Jahren sehr, sehr zurückgehalten. Und zum x-ten Male „Der kleine Lord“ oder „Der Grinch“? Wahrscheinlich kannte Kevin die Dialoge schon auswendig! Der erste Teil von „Stirb langsam“ spielte zwar zur Weihnachtszeit, war aber –  und darauf achtete ich als älteres Semester wohl in übertriebenem Maße – für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet. Also womit könnte ich ihn ...? Ich schüttelte den Kopf. Schließlich hatte ich noch Zeit.

Ein Blick auf den Kalender bestätigte mir: Wir hatten September. Doch in den Geschäften hatte die Vorweihnachtszeit begonnen. Die Regale füllten sich mit weihnachtlicher Deko, und beim Lebensmitteldiscounter stapelten sich die Papp-Paletten mit Adventskalendern und Schokoladenfiguren in glitzerndem Stanniol. So sah ich mich beim Einkauf, ohne überhaupt daran gedacht zu haben, unvermittelt einer Riege von Weihnachtsmännern und -frauen gegenüber. Alle mit mir auf Augenhöhe, alle etwa 25 Zentimeter groß, und alle prostituierten sich mit ihrer rot-weißen Robe und versuchten, mich zum Kauf zu animieren. Nun gut, die Weihnachtsfrauen in Grün-Weiß.

Mein Blick huschte durchs Regal, und da sah ich sie. Es war Liebe auf den ersten Blick. »Die ist es und sonst keine!« Erschrocken zuckte ich zusammen und schaute mich verlegen um. Erleichtert atmete ich aus, offenbar hatte keiner der Kunden oder jemand vom Verkaufspersonal meinen Ausruf mitbekommen. Vorsichtig schob ich ein paar Schokofiguren zur Seite, um mit der Hand bis nach hinten an die Regalwand zu gelangen. Dort stand sie. Die richtige Partnerin für Kevin. Etwas kleiner als die übrigen schien sie mir, aber das machte ihre Figur wett. Eine Traumfrau von Schokoladenweihnachtsleckerei. Lange, goldblonde Locken spitzten unter der grünen Kapuze mit dem weißen Pelzbesatz hervor, das Engelsgesicht war so fein geformt – oder besser gesagt: gedruckt –, dass das Hinschauen eine Freude war. Ein Blick weiter am Körper dieser Weihnachtsfrau hinab offenbarte eine Oberweite ... einfach ein Traumbusen, an dem nicht nur ein Junge Spaß haben könnte, der gerade den Glauben an Santa verloren hatte. Ein wenig spannte das Stanniol sogar über diesem weiblichen Vorbau. Vorsichtig nahm ich die Hübsche aus dem Regal. Als ich sie in den Einkaufswagen legte – behutsam bettete ich sie auf den lockeren Blattsalat, damit an ihr nichts kaputtging, denn sie schien mir sehr zerbrechlich –, bemerkte ich eine weitere anatomische Besonderheit, die mich einen Moment lang stutzen ließ: riesige Füße, im Volksmund früher als „Quadratlatschen“ verlacht, die jedwedem Zirkusclown zur größten Ehre gereicht hätten! Spontan verglich ich sie mit den übrigen Figuren im Regal, die mich – oder meine neue Gesellschaft? – mit hämischem Grinsen zu überschütten schienen, doch nirgends sonst sah ich Standflächen in diesem Ausmaß. Ändern konnte ich nichts, also zuckte ich mit den Schultern und ließ die Figuren grinsen, so viel sie wollten. »Ab jetzt wohnst du bei mir«, säuselte ich der meinen zu, um gleich darauf zur Beruhigung meines Gewissen – ich bin verheiratet – nachzusetzen, »bis Kevin kommt.«

 

»Das ist für dich.«

Irgendwann am Nachmittag und Stunden, nachdem wir Kevin vom Bahnhof abgeholt hatten, drückte meine Frau dem Jungen die Tüte mit Weihnachtsleckereien in die Hand. Durch die transparente Folie, in die meine Frau alles gepackt hatte, präsentierten sich ihm selbstgebackene Plätzchen, Lebkuchen und Printen, Schokokugeln in buntem Stanniol und, nachdem er das Päckchen in beiden Händen einmal rundherum gedreht hatte, „meine" Weihnachtsfrau. Ihr wisst: die mit den großen T… und den riesigen Füßen.

Artig bedankte sich Kevin und legte die Leckereien zur Seite. »Die nehm ich nachher mit in mein Zimmer.«

Ich schluckte trocken in der Gewissheit, dass dies zwischen meiner Weihnachtsfrau und mir ein Abschied für immer wäre. Doch mein Schauder währte nicht lange. Spontan hervorgerufen durch ein Gelächter, das sich durchs ganze Haus Bahn brach, prasselten andere Gedanken auf mich ein. Gleichzeitig stürmten meine Frau und ich los, drangen nebeneinander durch die offen stehende Tür in Kevins Zimmer und fanden den Jungen mitten in der Stube stehen. Lauthals lachend, die Weihnachtsfrau in Händen – weitgehend entkleidet. Die Frau, nicht Kevin! Unter einem Rest der grün-weißen Stanniolkapuze und den Goldlocken schauten riesige Löffel hervor, weiter unten, wo vorher die weiblichen Rundungen saßen, wölbte sich eine Schokoladenschnauze mit angedeuteten Schnurrhaaren und einer übergroßen Hasenscharte, die das Schnäuzchen sichtbar in zwei Hälften teilte. Das Ganze stand nicht mehr auf Clownschuhen, sondern kauerte auf zusammengelegten Hinterläufen und kurzen Vorderbeinchen.

Dass Saisonware in der Schokoladenindustrie nach Ablauf der Festperiode ein- und für die nächste Saison umgeschmolzen wird, wusste ich. Doch irgendwie war es dem kleinen Kerl gelungen, dem Bottich oder Kessel zu entkommen. Jedenfalls war er nicht wie seine Kameraden verflüssigt und neu gegossen worden, sondern hatte wohl den direkten Weg in die Schneiderei gefunden, in der ihm ein wohlgesonnenes Wesen diesen unvergleichlichen Anzug aus Stanniol überstülpte. Wenn ich mir meinen allerersten Eindruck bei unserem Kennenlernen ins Gedächtnis rief, musste diese Verkleidung maßgeschneidert gewesen sein.

 

Als ich näher hinschaute, war ich mir sicher, dass der Schokoosterhase mir schelmisch zuzwinkerte. Schließlich hatte er mich lange genug an der Nase herumgeführt.

 

Wenn euch der Sinn nach mehr weihnachtlichen Erzählungen steht, freut euch über den ganzen Autoren-Adventskalender! Der nachstehende Link führt euch hin. Auch diejenigen, die nicht von dort hierhergefunden haben. Schaut ebenfalls auf meiner Homepage nach unter Advent, Advent!