Adventskalender 2024

Heiße Weihnacht - ein Beitag zum

 

Ihr Lieben,

 

die Vorweihnachtszeit ist angebrochen - oder schon fast vorbei, denn der Spekulatius steht seit September in den Supermarktregalen und ist mittlerweile beinah ausverkauft. Dennoch: Die besinnliche Zeit ist da. Wir besinnen uns darauf, dass wir die Winterreifen immer noch nicht aufgezogen haben, dass uns die ALDI- und LIDL-Weihnachtspullover nicht wirklich gefallen, obwohl wir gern einen hätten. Na ja. Jedenfalls mögen wir Weihnachtsgeschichten, auch wenn wir nicht gerade eingekuschelt vor dem Kamin sitzen. Im Autoren-Advernskalender von Rega und Andrea findet ihr auch dieses Jahr wieder reichlich Erzählungen ums Fest. Den Link findet ihr nach meiner Geschichte.

 

Viel Lesespaß wünsche ich euch und eine schöne, geruhsame und erholsame Zeit.

 

Euer Michael Kothe

 

Heiße Weihnacht

Heiße Weihnacht

 

»Gentlemen, ich bitte um Ihr Verständnis, wenn ich mich aus der Verhandlung zurückziehen muss. Gerade habe ich erfahren, dass sich bei mir zu Hause ein Unglück ereignet hat. Herr Dr. Schwarz, mein Stellvertreter, wird Ihnen die noch offenen Details erläutern und anschließend den Vertrag zur Gegenzeichnung aushändigen.«

Während er sprach, hatte Dr. Markgraf seinen Sessel von dem Konferenztisch fortgeschoben und stand nun vornübergebeugt vor der aufgeschlagenen Mappe, die die Vertragsausfertigungen enthielt. Zwischen den eilig hingeworfenen Unterschriften hob er den Kopf und nahm Blickkontakt zu seinen Verhandlungspartnern auf. Deren leichtes Kopfnicken signalisierte ihm ihr Mitgefühl und die Zustimmung für seinen Aufbruch.

Dr. Schwarz schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, als er den Füllfederhalter in der Innentasche seines Jacketts versenkte und sich mit einem knappen Bückling in Richtung der Geschäftspartner verabschiedete, wobei er die flach aneinander liegenden Hände vor seine Brust hielt. Er eilte zu seiner Sekretärin, die in die Verhandlung geplatzt war und, während sie sich über ihn beugte, ihm die schlimme Nachricht zugeraunt hatte. Nun stand sie im Eingangsbereich des Konferenzzimmers und hielt ihm die Tür auf.

»Was ist eigentlich passiert? Wie schlimm ist es?«

Sie zuckte die Schultern.

»Leider kann ich Ihnen nichts sagen. Als ich aus dem Archiv ins Büro zurückkam, blinkte der Anrufbeantworter. Ihre Frau hatte in den Minuten, die ich fort war, darum gebeten, Sie mögen schnellstmöglich nach Hause kommen, es habe ein schreckliches Unglück gegeben.«

»Haben Sie versucht, meine Frau zu erreichen?«

»Natürlich, aber es hat niemand abgenommen.«

Markgrafs Gedanken rasten. Seine Frau nicht erreichbar, ihr gemeinsamer Sohn Stephan war mit drei Jahren noch zu klein für ein Smartphone, und seine Stieftochter Melanie hatte in ihrer Verträumtheit ihres sicherlich irgendwo herumliegen. Hastig hängte er das Sakko über die Lehne seines Bürosessels und schlüpfte in die dick gefütterte Lederjacke, tastete, ob sich Haus- und Autoschlüssel wirklich in der Jackentasche befanden, und war nach einem flüchtigen Gruß zu seiner Sekretärin schon aus dem Büro hinaus. Die Wartezeit vor dem Fahrstuhl und die Fahrt in die Tiefgarage wurden zur Qual. Was ist geschehen? Eine erpresserische Entführung meiner Kinder? Lohnen würde sich das für die Kidnapper schon. Ein Unfall im Haus oder auf eisglatter Straße? Hätte ich meiner Sekretärin bloß gesagt, sie solle die Krankenhäuser abklappern!

Hinter dem Steuer wurde er ruhiger, der Straßenverkehr erforderte seine Aufmerksamkeit.

 

Unterwegs bemühte er sich immer wieder, durch Spekulationen Licht in das Dunkel der Geschehnisse zu bringen. Von innerer Unrast getrieben versuchte er, den vorigen Abend vor seinem geistigen Auge ablaufen zu lassen, nachdem er sich an nichts Konkretes vom heutigen Tag erinnern konnte, das er mit einem Unglück in Verbindung gebracht hätte. ­

Heute war der 25. Dezember, aber der Vertragsabschluss war für ihn und seine Firma wichtig genug, um am Vormittag seine Familie allein zu lassen. Nicht alle Asiaten feierten nun mal Weihnachten.

Die Bescherung gestern war geprägt von Unruhe, die Minuten danach ließen auch nichts an Dramatik zu wünschen übrig. Die Elfjährige, Melanie, drängte, dass die Eltern sie zum Weihnachtsgeschenk führten, was Markgraf gern tat, obwohl er im Geiste schon bei der Vertragsv­erhandlung war. Kurz schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Wieder entspannt lächelte er seine Stieftochter an in der Hoffnung, dass seine Hinwendung zu ihr und ein freundlicher Gesichtsausdruck hier und da zu einem innigeren Verhältnis führten! So legte er ihr das Geschenk in die Arme und wartete, bis sie das teure Geschenkpapier abgerissen und den aufwändig gestalteten Karton lieblos aufgebrochen hatte. Hilflos hatte er zu seiner Frau geblickt, die mit vor Schreck geweiteten Augen ihre Tochter anstarrte. Melanies Körper war steif, ihre Augen aufgerissen, und mit zusammengebissenen Zähnen hatte sie das Pony aus seiner Formverpackung gezerrt. Mit beiden Händen umfasste sie die Spielzeugfigur um die Körpermitte, die Fingerspitzen konnten sich gerade berühren, und hielt sie mit ausgestreckten Armen so weit wie möglich von sich. Das fernsteuerbare Geländefahrzeug mit Pferdeanhänger, Jockey und Sulky – alles im Maßstab zum Pferd passend – würdigte sie nur eines kurzen Blickes.

»Das habe ich nicht gewollt! Das tausche ich um! Susanne hat einen Tablet-PC bekommen und kann damit nichts anfangen, aber auf solchen Kinderkram wie das hier steht sie. Und wenn nicht mit ihr, dann tausche ich mit Mara. Sie weiß nicht, was sie mit ihrem neuen Chemiebaukasten anstellen soll. Das doofe Pferd behalte ich jedenfalls nicht.«

Bevor die Tränen aus ihr herausbrachen, hatte sich Melanie schon umgedreht und war den Flur entlang in ihr Kinderzimmer gerannt. Ihre Eltern hörten die Türe knallen, und ein »Wumm, wumm« signalisierte, dass das Mädchen seine Wut und Enttäuschung an Wand und Möbeln ausließ. Nur mit Mühe hielt Frau Markgraf ihren Mann davon ab, Melanie nachzueilen.

»Glaub mir, es ist besser, wenn sie sich erst einmal abreagiert. Ich kenne sie besser als du.«

Den Wutanfall verstand Markgraf partout nicht, denn ein Pony hatte sie sich doch gewünscht! Wochenlang hatte sie ihren Eltern damit in den Ohren gelegen, gelegentlich schon, seit sie nach den Herbstferien aus dem Ferienlager zurückgekommen war. Was war dann der Grund für die Enttäuschung? Nun zog ihn die Erinnerung daran wieder in die Realität zurück. Plötzlich quälte ihn eine noch schlimmere Befürchtung: Hatte seine Tochter sich etwas angetan?

Den Rest der Strecke musste er sich zusammenreißen, um seine Konzentration auf die winterlichen Straßenverhältnisse zu richten. Immer wieder zuckte er zusammen, wenn ihm seine Einbildung Bilder vorgaukelte, in denen Melanie sich in chaotischen bis skurrilen Szenen lebensbedrohlichen Gefahren aussetzte. Nass geschwitzt erreichte er endlich sein Wohnviertel.

 

Als er in die Straße einbog, in der sein teurer Bungalow zwischen den übrigen Luxushäusern kaum auffiel, waberte ihm schon das stroboskopartige Blaulicht mehrerer Einsatzwagen entgegen. In den Vorgärten der Nachbarschaft führten Lichtergirlanden und Weihnachtsbäume einen aussichtslosen Kampf gegen das blaue Leuchten. Bis zu seiner Auffahrt kam Markgraf gar nicht durch, ein Polizeifahrzeug hatte gut einhundert Meter vorher die Fahrbahn blockiert.

Er brachte sein Coupé knapp daneben zum Stehen, beim Aussteigen zitterten seine Knie. Im letzten Moment wich er dem Krankenwagen aus, der ihm mit blauem Blinklicht auf dem Bürgersteig entgegenkam. In seiner Anspannung hatte er ihn vorher übersehen. Seine Frau? Stephan? Oder doch Melanie? Er rannte. Auf halber Strecke sah er seine Frau am Straßenrand vor der Einfahrt stehen, einen Arm schützend um den Dreijährigen gelegt. Er merkte, wie sie immer wieder zusammenzuckte. Also doch Melanie, ihre Tochter aus erster Ehe!

»Halt! Hier dürfen Sie nicht weiter.«

Verständnislos gaffte Markgraf den Uniformierten an, der sich urplötzlich vor ihm aufgebaut hatte und ihm nun beide Hände vor die Brust drückte, damit er stehen bliebe.

»Was ist …? Ich bin … Das ist mein Haus!«

Verwundert starrte er auf seinen Arm, den er unwillkürlich ausgestreckt hatte und der auf sein Heim zeigte – oder auf das, was davon übrig war. Nun erst nahm er wahr, dass vor seinem Grundstück und auch auf dem Rasen Löschfahrzeuge standen. Einsatzkräfte in dicken hellbraunen Feuerschutzanzügen, ausgestattet mit neongelben Helmen und mit Atemschutzgeräten, machten sich nur scheinbar behäbig auf den Weg in seinen Bungalow, der aus Tankfahrzeugen mit dicken Wasserstrahlen beschossen wurde. Nur Qualm stieg aus der Ruine, Flammen konnte er nicht sehen. Ihm wurden die Knie weich, noch rechtzeitig stützte er sich an einem der brusthohen Edelstahlkästen ab, in denen seine Nachbarn ihre Mülleimer verbargen.

»Herr Dr. Markgraf, hat man Sie doch erreicht! Ihre Frau war sich nicht sicher, ob die Nachricht an Sie weitergegeben würde.«

Markgraf blickte auf. Den Einsatzleiter der Feuerwehr kannte er. Von welchem Clubtreffen, fiel ihm nicht ein.

»Was ist …« Er schluckte. »Was ist geschehen? Meine Frau sehe ich, unseren Sohn auch. Aber was ist mit Melanie? Sie ist doch nicht …«

Statt einer Antwort winkte der Einsatzleiter einen Mann in Zivil herbei.

»Schweigert ist mein Name, ich bin Notfallseelsorger.«

Markgraf rutschte an dem Müllhäuschen hinunter, bis er im Schneematsch auf dem Bürgersteig zu sitzen kam. Die Nässe zog sofort in seine Kleidung, er spürte es überhaupt nicht.

Schweigert fuhr fort. »Wie ich von der Feuerwehr erfahren habe, ist der Brand in einem der rückwärtigen Räume …«

»Die Kinderzimmer!«, schrie Markgraf auf.

»… ausgebrochen. Die Einsatzkräfte sind mit Atem­geräten auf dem Weg dorthin. Wenn Sie …«

Markgraf raffte sich auf und schob den Seelsorger mit einer unwirschen Armbewegung zur Seite. Wie ein Traumwandler stakte er auf seine Frau zu, nichts von seiner Umgebung nahm er wahr. Seine Tochter! Als Vater sollte sie ihn akzeptieren. Lieben. Zu viert sollten sie eine Familie sein. Und nun … im Kinderzimmer! Verbrannt, verschüttet, erstickt? Unter Tränen erkannte er das Gesicht seiner Frau, bei der er gerade angekommen war. Fahrig und ohne es selbst wahrzunehmen, strich er Stephan übers Haar, unbewusst versuchte er, Trost zu spenden.

»Melanie?« Es fühlte sich an, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.

»In ihrem Zimmer ist wohl der Brand ausgebrochen. Das sind die vorläufigen Vermutungen der Feuerwehr. Weil hier vorn noch nicht so viel verbrannt war, als sie kamen.«

Er schlug sich an die Stirn. Hatte sie sich wirklich etwas angetan? Oder war sie wieder einmal nur nachlässig gewesen? Schon öfter konnte Schaden gerade noch abge­wendet werden, den ihre Fahrigkeit und Unkonzentriert­heit heraufbeschworen hatten. Ein Föhn, ein elektrischer Heiz­ofen? An der Gardine, der Bettdecke? Mit beiden Händen griff er seine Frau an den Schultern und schüttelte sie.

»Und Melanie?«

Seine Frau lächelte.

»Sie war als erste aus dem Haus. Hat Stephan und mich an der Hand gepackt und nach draußen gezerrt. Das war gleich, nachdem ihre Freundinnen wieder verschwunden waren. Sie hatte mit ihnen telefoniert, und beide waren gekommen. Susanne hat mir schulterzuckend ihr Tablet gezeigt, und Mara hatte einen Karton in einer großen Einkaufstasche angeschleppt. Sie blieben nur ein paar Minuten. Aber es war recht laut zugegangen im Kinderzimmer, die drei haben sich gestritten. Offenbar wollten die beiden ihre Sachen doch nicht gegen das Pony eintauschen.« Aufgeregt blickte sie sich nach allen Seiten um, nun zitterte auch ihre Stimme. »Aber du hast recht. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

Melanie lebte!

Markgraf ließ seine Frau stehen. Zwischen den Einsatzfahrzeugen rannte er hin und her. Irgendwo musste Melanie doch stecken! Und dann sah er den hellgrauen Strickpulli, auf dem der Hinterkopf von Mickeymaus prangte. Oder von Minnie? Egal! Er hatte seine Tochter entdeckt. Als Erste draußen? In ihrem Zimmer der Brand ausgebrochen? Oh, Kind, wobei bist du nun wieder unvorsichtig gewesen? Doch Antworten auf diese Fragen waren im Moment gleichgültig. Er schlängelte sich zwischen Fahrzeugen, Schlauchrollen und Menschen hindurch, die ihn aufhalten wollten, und strebte seiner Tochter zu. Gleich würde sie sich umdrehen, ihn erkennen und auf ihn zulaufen. Ihre Arme würde sie um seine Taille schlingen, ihren Kopf würde sie an seine Brust drücken und schluchzen. »Papa, das hab´ ich nicht gewollt«, würde sie ein ums andere mal rufen. Er würde in die Hocke gehen, mit ihr auf Augenhöhe ihre Tränen trocknen, ihr liebe Worte zuraunen und sie trösten. Sie wäre endlich seine Tochter, und er wäre von nun an als ihr Vater akzeptiert! Er blieb stehen, den Moment der Vorfreude wollte er auskosten. Ein Haus konnte man wieder bauen, die Einrichtung wieder kaufen. Die Liebe seiner Tochter jedoch war unbezahlbar.

Da drehte sie sich um. Minnie Maus lachte ihn von ihrem Pullover her an. Melanie kam langsam auf ihn zu, er ging in die Hocke und strahlte.

Wenige Schritte vor ihm blieb seine Tochter stehen, die Füße schulterbreit auseinander, und stemmte ihre Fäuste in die Seiten. Ihre Augen funkelten zornig, und trotzig reckte sie ihm ihr Kinn entgegen. Ihr Mund wurde breiter, die Lippen öffneten sich und zogen sich zu schmalen Strichen. Zwischen den Zähnen presste sie hervor: »Wetten, im nächsten Jahr kriege ich zu Weihnachten ein richtiges Pony!«

 

 

Nicht ganz so heiß geht es her in den übrigen Kurzgeschichten, die so sind, wie das Buch heißt: Muntere Short Stories eben.

Buch von Michael Kothe, Autor aus Unterschleißheim bei München