Wer rettet Weihnachten?
»Mensch, Santa, versteh´ doch!«
Der Weihnachtsmann seufzte. Nur zu gut verstand er Rudolph, befanden sie sich doch, was ihr Alter anbetraf, in einer vergleichbaren Situation. Wenn er seine vielen Jahre ins Verhältnis zu den rund 15 Lebensjahren eines Rentiers setzte, hatte Rudolph ihn bald eingeholt. Jedes von Rudolphs Zipperlein konnte er nachempfinden, er spürte es ja am eigenen Leib. In Rente zu gehen, wünschten sich beide von Herzen.
»Erstens«, klagte Rudolph, »sind meine Gelenke schon recht steif, und bei manchen Schritten knackt es bedenklich. Zweitens, was mir viel wichtiger ist: Ich vertrage das Tuscheln der anderen im Geschirr nicht. Alter Sack, habe ich letztes Jahr gehört. Immer mehr muss ich um Respekt kämpfen. Bei einer solchen Truppe will ich nicht mehr Leithammel spielen.«
»Leit-Ren!«, verbesserte Santa und unterdrückte ein Schmunzeln. »Ein Hammel bist du wirklich nicht. Eher mein bestes Pferd im Stall.«
»Ja. Ich bin eben so dumm, jedes Jahr wieder vor deiner Tür zu stehen und mich für die nächste Tour anzubieten. Aber irgendwann ist Schluss!«
Es war Spätherbst, also noch eine gute Weile hin bis zu ihrem großen, geheimen Auftritt. Verständlicherweise graute beiden dennoch vor der bevorstehenden Anstrengung. Sorgfältige Reisevorbereitung, eine haargenaue Streckenplanung, um jeden noch so kleinen Umweg zu vermeiden, weil der ja Zeit kostete. Zeit, die sie nicht hatten am Heiligen Abend! Ihre Schlittenfahrt würde lang.
Vorerst stand für Santa die Produktion der Spielzeuge im Vordergrund, die Wichtel mussten eingewiesen und beaufsichtigt werden. Zum Glück konnte er auf eine Schar erfahrener Helfer blicken. Als nächstes kam dann das Lesen der Wunschzettel, die die Postboten von überallher zum Nordpol brachten. Da das erst Anfang Dezember geschah, musste er sich noch nicht darum kümmern. Aber wenn, dann hatte er schleunigst die Gaben den Wünschen zuzuordnen, wobei er sich kleine Abweichungen erlaubte. Besonders, wenn Kinder nicht artig gewesen waren, wich er gern ein wenig mehr als nötig von den Wünschen ab. Auch er war gegen eine Portion Schadenfreude nicht gefeit. Rudolph kicherte jedes Mal, wenn er ihm davon erzählte. In den vielen Jahren hatte sich zwischen beiden eine innige Freundschaft aufgebaut. Dieses Mal jedoch war Rudolph nur vorbeigekommen, um zu gestehen, dass er sich noch eine Tour nicht zutraute. Dass sein Freund wieder einmal nicht daran gedacht hatte, für ihn einen Nachfolger einzuarbeiten, enttäuschte ihn. Unglücklich waren beide.
»Du bist so still auf einmal«, stellte Rudolph fest, »hast du schon eine Lösung gefunden?«
Santa atmete erleichtert aus, denn aus der Frage hatte er keinen gereizten Ton mehr heraushören können.
»Eine Lösung noch nicht, aber ich bin froh, das wir uns nicht mehr streiten. Auch mir wird Weihnachten langsam zuviel, ich bin keine zwanzig mehr! Jedes Jahr freue ich mich mehr darüber, dass wir beide den Job nicht alleine machen müssen. Um die Ecke hilft das Christkind aus, und in Südeuropa sind´s die drei Könige. Tja, und dann gibt es Gegenden, da glaubt sowieso kein Kind an uns. Außerdem …« Verschmitzt kraulte er seinem Wiedermal-Reisegefährten den silbergrauen Bart. »Außerdem ist ja neuerdings auch dieser große Versandhandel darauf spezialisiert, schon in der Vorweihnachtszeit seine lachenden Pakete zuzustellen. Wenn die auch meist bei den Eltern landen und bis zum Heiligen Abend versteckt gehalten werden.«
Rudolph riss die Augen auf. Neue Konkurrenz?
Beruhigend strich ihm Santa übers Nackenfell. »Mit dem Elektronikkram, den sich Kinder heutzutage wünschen, kennen die Wichtel und ich uns nicht aus. So ist es besser, wenn das ein anderer übernimmt. Und die Amerikaner haben zugegebenermaßen eine hervorragende Logistik. Fast wie der Brausehersteller mit seinen roten Lastwagen, an den du dich sicher noch erinnerst.«
»Das klingt, als wolltest du Weihnachten an den Nagel hängen.« Es klang eher wie eine Frage als eine Feststellung.
»Naja, die Zeiten sind hektischer geworden. Irgendwann ist das nichts mehr für uns. Aber umso wichtiger ist es, dass wir uns diesmal noch ins Zeug legen. Schließlich liegt da schon ein Berg von Spielsachen herum, die die Wichtel fabriziert haben und die verteilt werden wollen.«
Rudolphs Stöhnen klang übertrieben. »Ist ja gut«, gab er augenzwinkernd zu, »dieses Jahr laufe ich noch mit. Du hast ja sonst niemanden, der den Weg kennt. Aber such mir bitte die richtige Gruppe aus! Keine dieser Juppies, die die ganze Strecke über nur prahlen, was sie schon alles angestellt hätten, und auch nicht diese unreifen Kühe! Im letzten Jahr hatten wir im Gespann einen richtigen Zickenkrieg. Ich weiß nicht, ob du das so mitbekommen hast.«
Santas Kopf zuckte zurück, seine Kinnlade sackte ein Stück nach unten. »Nee, nicht wirklich«, gab er gedehnt zu. »Aber diesmal achte ich drauf.«
Mittlerweile war der Dezember angebrochen. Sie standen in der Scheune. Zuerst hatte Santa am Schlitten gewienert. Es war ihm anzumerken, dass ihn etwas umtrieb. Er wurde erst wieder ruhiger, als er den Topf auf die heiße Kochplatte in der Pausenecke gestellt, den Rotwein hineingegossen, Zucker, Zimt, Nelken und sein Geheimgewürz hinzugegeben hatte. Zum Schluss drückte er zwei Orangen aus, ließ den Saft in den Topf laufen und rührte alles gemächlich um. Das süße Aroma verbreitete eine romantische Stimmung und vertrieb das Gefühl winterlicher Kälte.
Dazu im Gegensatz stand Santas unerwartete Ankündigung. »Heuer musst du dich etwas mehr anstrengen.«
Das ließ Rudolph aufhorchen. Er hob den Kopf aus der Futterkrippe und schaute den Alten erwartungsvoll an. Als der ihn zu lange auf die Folter spannte, gähnte er gespielt. »Nun sag schon endlich!«
»Wir haben einen Passagier. So dick und schwer wie ich ist er nicht, das wird er erst, wenn wir nicht mehr dabei sind. Ich habe einen Nachfolger! Gestern kam mein Neffe zum Nordpol hergeflogen und hat mir erzählt, er suche eine neue berufliche Herausforderung.«
»Das klingt ganz nach dem Lackaffen, der in der Teppichetage von Ama…, ups, sitzt.«
»Genau der! Er ist Leiter der Logistik für ganz Europa und hat gekündigt. Das Geschäft ist ihm zu nüchtern und zu unpersönlich geworden. Und er hat ja noch einige Berufsjahre vor sich.« Sein Blick verklärte sich, ein Lächeln spielte um seine Lippen. Er klang verträumt: »Santa Heinz.«
Ein langgezogener Seufzer Rudolphs ließ ihn aufhorchen,
»Ja, was ist? Freust du dich nicht mit mir? Denkst nur an den heuer schwereren Schlitten?«
»Freilich freu´ ich mich für dich. Aber ich soll dann wohl noch jahrelang für diesen Springinsfeld den Leithammel spielen?«
»Leit-…«, begann Santa. Dann zog ein breites Grinsen auf sein Gesicht. »Nö. Auch du wirst abgelöst.« Damit drehte er sich um und winkte in Richtung Scheunentor.
Ein Wichtel drückte den Spalt so weit auf, dass nicht nur er hindurch passte. Ihm auf den Fersen folgte eine Renkuh.
Rudolph traute seinen Augen nicht. Das hübscheste Rentierweibchen, das er je gesehen hatte, stand vor ihm. Von Santas Vorstellung bekam er nur noch den Rest mit und hatte nicht einmal mehr Gelegenheit, seiner Überraschung Ausdruck zu geben.
»… Sarah hat schon lange ein Auge auf dich geworfen.«
Und schon zupfte der Wichtel ungeduldig an Santas Ärmel und zog ihn energisch aus der Scheune. Santa zuckte resigniert mit den Schultern. »Scheint wichtig zu sein.«
»Du willst meinen Job übernehmen? Verzeih meine Bemerkung, aber wir sind doch beinah im gleichen Alter. Und das willst du dir das antun?«
»Nur dieses ein Mal. Du bist ja nicht gerade unbekannt. Lange hatte ich mir gewünscht, mit dir im Gespann laufen zu dürfen. Sieben Jahre hintereinander habe ich mich beworben und bin nie in die Auswahl gekommen.«
»Und diesmal?«
»Hatte ich nur meine Neffen begleiten wollen. Jung und kräftig, die beiden. Und da hat mich der Wichtel gefragt. Klar, hab´ ich gesagt, schließlich kenne ich ja die Strecke.«
Rudolph blieb der Mund offen stehen. »Wo…, woher?«
»Die letzten zwei Jahre bin ich euch nachgelaufen. Falls ich helfen könnte …«
Als der Weihnachtsmann nach einer Weile wieder in die Scheune kam, fand er Rudolph und Sarah Schulter an Schulter gelehnt in der Pausenecke. Nicht nur Rudolph hatte eine rote Nase. Santa schaute in den Topf. »Hohoho!« Ein Kichern begleitete seinen Vorwurf. »Ihr hättet mir ruhig etwas übrig lassen können.«
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