Plätzchen
»Das ist aber eine schöne Plakette. Sind Sie Sheriff?« Leise kicherte die alte Dame in der Kittelschürze.
Verwundert klappte der Polizist sein Etui mit Dienstmarke und Dienstausweis wieder zu.
»Äh, ich bin Kommissar Hübsch, und das ist Polizeimeisterin Tausendschön. Frau Häusler, Ihr Enkel Thorsten …«
»Ach ja, ein lieber Junge. Er wohnt hier, wissen Sie?«
Ist die total nebendran? Hallo, wir sind von der Polizei. Da muss doch etwas klingeln bei ihr! Laut sagte er: »Ihr Enkel. Thorsten. Wir haben Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen.«
»So? Dann kommen Sie doch herein. Drin redet sich´s besser.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich die Seniorin um und schlurfte durch den Flur zu einer Tür mit gelber Glasfüllung. Ohne Zweifel befand sich dahinter die Küche.
Hübsch warf seiner Kollegin einen fragenden Blick zu und zog die Schultern hoch.
»Total senil!«
»Dement. So heißt die meist altersbedingte Krankheit. Und putz dir gefälligst den Schnee von den Füßen!«
Hübsch hielt inne. Anstatt wie beabsichtigt einen großen Schritt über den Fußabstreicher zu machen, trat er unter der Tannengirlande hindurch in das Reihenhäuschen nun erst, nachdem er geräuschvoll seine Sohlen porentief rein gebürstet hatte. Hätte sein Blick töten können, müsste er künftig seine Ermittlungen allein durchführen.
Als beide eintraten, hatte Oma Häusler in der Küche ihr Handwerk schon wieder aufgenommen. Sie zeigte auf die Stühle am Küchentisch. Massivholz, die Sitzfläche aus braun gesprenkeltem Linoleum. Wie die ganze Kücheneinrichtung strahlten auch sie den Charme der Fünfzigerjahre aus.
Hübsch und Tausendschön zogen sich die Stühle zurecht und nahmen Platz. Nicht ohne sich ratlos anzusehen. Wie bringt man einer sicherlich über 80jährigen Dementen bei, dass ihr Enkel …
»Milch oder Zucker?«
»Geht auch beides?«, fragte Hübsch trotz der sich gegenseitig wohl ausschließenden Optionen, während Tausendschön der Seniorin ein »Schwarz!« zuflötete, gefolgt von »Bitte!«
»Ihr Enkel ist vom …«
»Hier, bitteschön!« Und schon stellte Frau Häusler zwei Tassen Instant-Kaffee auf den Tisch. Einmal mit Milch und Zucker und einmal ohne. »Ich schaue kurz nach den …« Dann drehte sie sich um und öffnete den Backofen.
Beinahe wäre der Kommissar aufgesprungen. Hörbar sog er die Luft ein.
»Hier riecht es wie … ich weiß nicht recht.«
»Shisha!«, säuselte die Tausendschön ihm ins Ohr. Die Zischlaute kitzelten, sodass Hübsch sie kaum verstand. Frau Häusler ganz sicher nicht, obwohl sie sich nach ihm umdrehte.
»Ich meine Marihu...«, flüsterte er zurück.
»Ach, das Räuchermännchen. Aus dem Erzgebirge. Dort auf dem Kühlschrank ...« Die Blicke der Polizisten folgten Frau Häuslers Zeigefinger. »… neben dem Nussknacker. Thorsten stellt die beiden jedes Jahr im Advent auf. Die Räucherkerzen besorgt er auch. Ist der Kaffee in Ordnung?«
»Ja, danke, sicherlich. Aber nun müssen wir … Hat Thorsten hier gewohnt?« Stolz strahlte Hübsch seine Kollegin an, die nur den Kopf schüttelte. Schließlich hatte Frau Häusler die Frage schon an der Haustür beantwortet. Immerhin hatte er endlich das Thema angeschnitten, weshalb sie die alte Dame aufgesucht hatten. Wenn auch nur indirekt.
»Ach ja, Thorsten. Ein lieber Junge! Er hat mich nie geschlagen.«
Tausendschöns Kinnlade führte plötzlich ein Eigenleben und klappte ohne ihr aktives Zutun herunter, während Hübschs rechter Zeigefinger – von Frau Häusler unbemerkt – Kreise um seine Schläfe zog.
»Also, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Thorsten ist vom Rathausdach gesprungen. Immerhin vier Stockwerke tief.«
»Und? Hat er´s geschafft?« Immer noch stand Oma Häusler gebückt vor dem Backofen, hineingeschaut hatte sie bis jetzt nicht.
»Äh, er ist unten angekommen, ja. Er ist …«
»Ja, das ist schön. Danke, dass Sie es mir erzählen.« Sie wandte sich langsam dem Ofen zu, ohne mit Sprechen aufzuhören. »Als er vor einer Stunde gegangen ist, erzählte er mir, er wolle fliegen … Oh nein!«
Hübsch sprang auf, sein Stuhl kreischte über den Fliesenboden wie Kreide über die Schultafel. Er eilte zu der Seniorin, wollte sie auffangen – der Schock des Begreifens musste sie überwältigt haben, gleich würde sie ohnmächtig.
»Sie sind verbrannt. Alle.« Oma Häusler drehte sich um und hielt dem Kommissar schnaubend ein Backblech halbvoll mit schwarzen Plätzchen entgegen. »Nun kann ich Ihnen keine mehr anbieten.«
Jetzt war Hübsch einer Ohnmacht nahe.
»Ihr Enkel. Thorsten. Ist vom Rathausdach. Gesprungen.« Er riss sich zusammen, endlich wieder ganzer Sätze fähig. Dennoch traute er sich nicht, mit der Nachricht herauszuplatzen. »Wie war Ihr Verhältnis zueinander?« Mit einem hörbaren Ausatmen gab er dem Gespräch eine spontane Wendung.
»Wie ich schon sagte: Geschlagen hat er mich nie. Er ist ordentlich, und seine Arbeit als Installateur macht ihm Spaß. So lernt er viele Häuser kennen, wie er immer sagt. Jeden Tag erzählt er mir, wo er war. Sonst redet er nicht viel, er ist ein stiller Junge. Aber er hat seltsame Freunde. Ungezogen sind die und trinken Alkohol und rauchen.« Sie senkte die Stimme. »Keinen normalen Tabak.« In leisem, verschwörerischem Tonfall fuhr sie fort. »Das ist Cannabis, wenn Sie mich fragen. Hinterher sind alle …« Sie kicherte über ihre altmodische Wortwahl. »… bekifft. Und Thorsten will fliegen.«
Hübsch wand sich. Wie soll ich ihr jetzt von Thorsten … und überhaupt: Könnte sie etwas zu dem Verdacht äußern, ihr Enkel sei am Einbruch in eine Villa beteiligt gewesen? Weshalb er wohl Suizid … So weltfremd, wie sie ist, ganz sicher nicht.
»Ihr Enkel ist tödlich verunglückt, Frau Häusler. Er hat sich vom Rathaus gestürzt.« Es sprach´s die Tausendschön. Schocktherapie!
»Ach, dann hat das mit dem Fliegen nicht geklappt?«
Dement!, schoss es Hübsch durch den Kopf. In höchstem Grade dement! Aber vielleicht hilft ihr gerade das gegen den Schock.
»Ist schon gut, dann muss ich mit dem Abendessen nicht auf ihn warten. Aber jetzt will ich weiter aufräumen. Und Weihnachtsplätzchen muss ich neue backen. Ihren Kaffee haben Sie getrunken? Danke für den Besuch, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Tausendschön stemmte sich unsicher an der Tischkante hoch, und ratlos schlichen beide in Richtung Haustür.
»Wenn noch irgendetwas ist oder Sie Hilfe brauchen, rufen Sie uns an!«, rief Hübsch Frau Häusler zu, als er sich im Flur noch einmal umdrehte. Da sie in der Küche geblieben war, legte er die Visitenkarte auf das Telefontischchen. Er sah noch, wie sie die verkohlten Weihnachtsplätzchen vom Blech in den Mülleimer schabte.
Sie blickte ihm nach, bis er die Tür hinter sich zugezogen hatte. Dass sie alle Haschplätzchen, die Thorsten nicht gegessen hatte, nochmals in den Ofen geschoben hatte, sobald er schwankend das Haus verließ, hatte sie den Beamten verschwiegen. Schmunzelnd dachte sie an ihren Plan, die „Tatwaffe“ verkohlen zu lassen. Doch beinah, aber auch nur beinah, hätte der Geruch sie verraten. Das nächste Mal würde sie besser aufpassen.
»Ach, es gibt ja kein nächstes Mal.« Spontan kicherte sie. Nie wieder würde Thorsten sie schlagen, nie wieder seine verhassten Freunde mitbringen. »Und die 15.000 Euro aus dem Einbruch, die Thorsten in seine alten Jeans gewickelt und in seinen Schrank gestopft hat, kann ich nun auch behalten.«
Euch hat der kleine Vorweihnachtskrimi gefallen? Mehr Krimis gefällig ... die sich unbemerkt übers ganze Jahr verteilen? Dann schaut lest euch ein in Schmunzelmord und Schmunzelmord 2, in dem ihr auch diese hinterlistige Untat findet. Auch dafür viel Lesespaß!
Und solltet ihr noch nicht alle Türchen geöffnet haben: Hiergibt's noch ein paar unter Advent, Advent!
Euer Michael Kothe
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